Buchrezension *6_Kokon

Der Surrealismus umfasst ein breites künstlerisches Spektrum, welches sich auf besondere Weise mit dem Unterbewussten, Träumen und Visionen auseinandersetzt. Jedoch ohne erklärende Wege für eine Reise durch dieses bunte Gewirr aus Sinnen und Sinneswahrnehmungen vorzugeben. Vielmehr stehen sie als eine Art Ausgangsbasis für künstlerische Produktionen. Diesem Leitfaden folgend, entführt das Debüt des Erfurter Literaturwissenschaftlers René Porschen den Leser in eine fraktale Anderswelt, in der man in die phantastischen Träumereien und die Hybris eines Wesens eintaucht, welches eigentlich gar nicht existieren dürfte und somit der wirren und widersprüchlichen Existenz selbst den Spiegel vorhält.

Da im Roman Phänomene außerhalb des Erkenntnishorizonts thematisiert und verschiedene Erkenntnisfragen angesprochen werden, lässt es sich grob als phantastische Literatur bezeichnen. Auch, wenn es sich einer genauen Genrezuordnung weitestgehend entzieht. Jedoch lässt sich definitiv sagen, dass Kokon fernab des Mainstream anzusiedeln ist, daher bettet es sich sehr gut in das Programm des Verlages Edition Outbird, der sich als Plattform für eben solche Kunst versteht. Der Roman des angehenden Doktors der Literaturwissenschaft erschien im Frühjahr 2020 im Verlagsprogramm.

Ein verbrauchter Kokon erwacht zum Leben. Er hat seinen Soll erfüllt, der Schmetterling hat sich entwickelt und seine Hülle verlassen. Doch anstatt auf den Waldboden zu fallen und dort zu verrotten, bildet sich ein Bewusstsein in ihm aus. Dabei interessiert ihn nicht, wie es dazu kommen kann, dass ein eigentlich so lebloses Ding wie er es sein sollte, ein Bewusstsein entwickeln kann. Genauso wenig interessiert ihn der Schmetterling, der sich in ihm entwickelt hat. Er ist. Und das ist alles, was für ihn wichtig ist. Die Tatsache seiner Existenz ist gleichzeitig das, was seine Existenz ausmacht und ihren Dreh- und Angelpunkt bildet.

Doch wohin mit den Gefühlen und Gedanken? Nach einem ersten Rückschlag findet der Kokon Unterschlupf und Zuhause in den Armen einer resignierenden Ameisenkönigin. Ineinander finden sie Trost und Verständnis und ihr Volk wird sein Volk. Er beginnt, sich im Nest der Ameisen einzunisten und spannt sie für sein ebenso phantastisches wie dekadent und utopisches Vorhaben ein.

Der Kokon teilt wohl mit jedem Leser den Wunsch, nicht in Vergessenheit zu geraten, sondern in seinem Leben irgendetwas zu schaffen, was ihn in der Erinnerung weiterleben lässt. Dabei erreicht der Wunsch des Kokon so übertriebene Ausmaße, dass er sich letzten Endes so weit darin verliert, dass er nicht dazu kommt einen realistischen Plan zu fassen und umzusetzen. So scheitert sein Größenwahn wohl an seiner eigenen Unzulänglichkeit.

Der Geschichte ist ein kurzes Gedicht voran gestellt, welches den gleichen Titel trägt, wie die Erzählung selbst. Es bereitet den Leser auf den unscheinbaren Mikrokosmos vor, in den ihn die Geschichte entführt und erinnert daran, wie viele schöne Dinge es gibt, deren Schönheit niemals erkannt wird. Der Kokon mit seinen Phantastereien scheint selbst so eine Ding zu sein, dessen Schönheit unerkannt vergeht. Im Laufe der Geschichte referiert der Erzähler selbst über die Fülle an Geschichten, die ungehört und unerzählt bleiben. So zieht er von der im Stillen vergehenden Schönheit einen Kreis zu den Geschichten, die niemals erzählt werden und bettet den Kokon irgendwo dazwischen ein.

Porschen erzählt diese Geschichte mit einer ausgesprochen exzentrischen Sprachmalerei und Liebe zum Detail. Teilweise sind die Worte, die er dabei wählt, so ausschweifend und blumig, dass der Inhalt für einen kurzen Moment in den Hintergrund tritt, um der Schönheit der Sprache Raum zu machen.

Letzten Endes vergeht der Kokon genauso schnell und unerkannt, wie er auch entstanden ist. Innerhalb der Erzählung eröffnen sich Existenz- und Sinnfragen, die wohl auch dem Leser schmerzlich vor Augen führen, dass er keine Antwort darauf zu geben vermag. In seiner unvollendeten Abgeschlossenheit wirkt Kokon wie ein fragmentarisches Kondensat philosophischer Fragen und all der Dinge, deren Überlegungen zwar anstößt, jedoch nur selten den Mut aufbringt, sie auch zu Ende zu denken. Wer dazu bereit ist, sich auf eine solche Reise einzulassen, die den Leser mit mehr Fragen als Antworten und einem Gefühl für die eigene Unzulänglichkeit zurück lässt und einen hohes Maß an sprachlicher Verschrobenheit und Schönheit aufweist, dem kann ich das Buch nur empfehlen.

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